Ist die Anamnese notwendig für die Begleitung?

Frage

Waltraut, Du hattest in einer deiner Fortbildungen gesagt, dass eine Anamnese nicht zwingend nötig sei, um ein Kind zu begleiten.

Aber ist es nicht doch notwendig, z. B. wenn ein Kind Epilepsie hat und ich „vorgewarnt bin“ und weiß, wie ich mich im Falle eines Anfalls verhalten soll?

Oder wenn ein Kind zum Beispiel eine Spinnenphobie hat, dass ich dann weiß, was los ist, wenn das Kind plötzlich anfangt zu schreien?

Antwort

Ja, du hast natürlich recht, dass es notwendig ist zu wissen, wenn ein Kind bestimmte Erkrankungen hat, die bestimmte Reaktionen nötig machen.

Anders sieht es schon bei Ängsten oder Phobien aus. Natürlich kann es für den Erwachsenen hilfreich sein, den Auslöser einer phobischen Reaktion zu kennen, aber es genauso gut zur Falle werden. Nämlich dann, wenn der Erwachsene durch sein eigenes „wachsames Verhalten“ (und damit durch seinen eigenen inneren Zustand und durch die Spiegelneuronen) das Kind beeinflusst, die erwartete Reaktion zu zeigen. Damit kann das Verhalten sogar noch verstärkt werden. Beide Personen sind sozusagen im Alarmzustand.

Aber hauptsächlich habe ich mit meiner Aussage folgendes gemeint.
Wenn ich durch die Information in einer Anamnese zu dem Schluss komme, dass ein bestimmtes Verhalten durch bestimmte Vorerfahrungen (Auslöser) hervorgerufen wird, dann ist es oft so, dass ich diesen Zusammenhang als „Wahrheit“ ansehe. Typische Gedanken: „Ach, so ist das! Ach ja, daher kommt das! Jetzt weiß ich, warum das Kind das tut.“ Damit zementiere ich einen Zusammenhang und schränke die Lösung ein.

Die vermeintliche Sicherheit, die wir uns erhoffen, wenn wir nach Sicherheiten in Bezug auf die Einschätzung von Verhaltensweisen anderer Menschen suchen, ist trügerisch. Wir mögen vielleicht oberflächlich das Gefühl haben, sicheren Boden unter den Füßen zu haben und zu wissen, wo es lang geht, aber in Wahrheit werden wir taub und blind für das, was das Kind uns zeigt – für seine innere Wirklichkeit.

(In Anlehnung an das Buch von Lienhard Valentin ‚Mit Kindern neue Wege gehen‘)