Exzessives Daumennuckeln
Frage
Ich habe ein 4,5 jähriges Förderkind, das viel am Daumen nuckelt. Der Daumennagel ist schon ganz weich und entzündet sich auch hin und wieder. Das Kind hat auch ein Stofftier, das überall mit hinkommt, daran nuckelt es auch viel.
Hast du eine Idee, wie man es liebevoll begleiten kann, das Daumennuckeln „abzugewöhnen“.
Antwort
Zuerst einmal frage ich mich in solch einer Situation nach dem Sinn des Verhaltens; nicht nach dem Grund (Frage „warum?“), sondern nach dem Sinn (Frage: „wozu?“).
Vielleicht erinnerst du dich an ein Video in Kurs EBK 2 von Emmi Pikler. Dort war eine Pflegerin für acht Säuglinge zuständig. Jedem einzelnen widmete sie sich während der Pflege ausschließlich. Ein Säugling war vor „seiner Zeit“ wach geworden und quengelte, da er offensichtlich Hunger hatte. Aber die Pflegerin war it einem anderen Kind beschäftigt und überließ den quengelnden Säugling sich selbst; nach kurzer Zeit begann er, an seinem Daumen zu nuckeln und beruhigte sich ein Stückchen weit selbst. Dieses Nuckeln wird als Überbrückung angesehen bis er dran ist. Damit ist das Nuckeln am Daumen (oder auch Schnuller) eine Möglichkeit sich über das Vertrauen in die Bezugsperson zu stabilisieren („sie wird bald kommen“). Gleichzeitig ist das Nuckeln aber auch ein Weg, dass das Kind lernt, selbst etwas zu tun, sich einen Weg zu suchen. Und damit ist es auch ein Weg zum Vertrauen in sich selbst („ich kann auch etwas allein tun“).
Herbert Renz Polster beschreibt in seinem Buch „Kinder verstehen“, dass der Schnuller wie auch das Schmusetuch Ersatzentspanner sind, damit die Kinder zum Beispiel ohne elterliche Hilfe einschlafen können oder eine Zeitspanne überbrücken können. „Das Dauernuckeln ist allerdings evolutionsbiologisch nicht vorgesehen.“ (Zitat Herbert Renz Polster).
In unserem Sprachgebrauch bedeutet das, dass das Nuckeln einen Sinn macht im Rahmen der Stabilisierung und im Übergang zur Selbständigkeit. Wenn das Nuckeln aber dauerhaft bleibt wie bei deinem Förderkind, dann scheint die Stabilisierung und damit auch die Balance zwischen Stabilität und Instabilität nicht gelungen zu sein. Das Kind wäre dann ein „Talbuddler“, welches stereotyp bzw. zwanghaft am Nuckeln festhält. Das zusätzliche Nuckeln am Stofftier ist eventuell zusätzlich noch der Ersatz für ein Schmusetuch.
Bei der Begleitung deines Förderkindes wäre die Überlegung sinnvoll, wie es sich zunächst einmal stabilisieren könnte, um dann in eine Balance zu kommen und auf das Nuckeln verzichten zu können.
Dazu wären in erster Linie Angebote aus der Zeit des tonisch-emotionalen Dialogs sinnvoll (guck mal im Arbeitsblatt TER aus Kurs 2).
Als Erweiterung kannst du auch Angebote von dem amerikanischen Kinderarzt Harvey Karp machen. Er erfand die „Babyflüsterer-Methode“. Er spricht von einer multisensorischen Stimulation, die der Situation im Mutterleib entspricht. Neben Pucken (Einwickeln in enge Tücher) und Schaukeln bietet er noch an: rhythmisches Klopfen in Herzschlagfrequenz auf den Rücken. Als weiteren Punkt nennt er das sogenannte „weiße Geräusch“. Dies ist im Flüsterton und in zischenden Geräuschen enthalten, die der Wahrnehmung im Mutterleib entsprechen. Nachzulesen ist dies ebenfalls in dem Buch „Kinder verstehen“ von Herbert Renz Polster.
In Bezug auf diese Form der Geräusche/Töne wären eventuell auch noch die Erkenntnisse von Alfred Tomatis wichtig, der in seiner Hör-Therapie die Geräusche so filtert, dass sie klingen wie im Mutterleib und das sind in erster Linie die hohen (eher zischenden) Töne.
Als Abschluss möchte ich auch noch darauf hinweisen, dass natürlich auch eine bewusste Einbeziehung des Kindes möglich ist, wenn dieses kognitiv und sprachlich dazu in der Lage ist. Dann kannst du das Problem besprechen, das du bzw. die Eltern mit dem Nuckeln haben. Allerdings ist es wichtig, dass nicht mit Belohnung (für Nicht-Nuckeln) oder Bestrafung (für Nuckeln) gearbeitet wird, sondern es dem Kind ermöglicht wird, Freude an einer Selbstregulation zu entwickeln. Das ist allerdings ein eigenes, sehr weitreichendes Thema.